Kernaussagen
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Nach zweijähriger Behandlung reduziert Natalizumab die Häufigkeit von Schüben und verlangsamt das Fortschreiten der Behinderung bei schubförmig remittierender Multipler Sklerose im Vergleich zu Placebo (Scheinbehandlung). Nach einjähriger Behandlung gibt es möglicherweise nur geringe bis gar keine Unterschiede in Bezug auf Nutzen und Schaden zwischen Natalizumab und einem Biosimilar (einem dem Originalpräparat sehr ähnlichen Nachahmerpräparat) bei der Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose.
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Bei Menschen mit sekundär progredienter Multipler Sklerose verringert Natalizumab möglicherweise die Häufigkeit der Schübe. Nach zwei Jahren zeigt sich aber möglicherweise kein oder nur ein geringer Unterschied im Fortschreiten der Behinderung.
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Längere Studien mit mehr nicht-weißen Bevölkerungsgruppen sind erforderlich, um den Nutzen und Schaden von Natalizumab bei Menschen mit Multipler Sklerose zu beurteilen.
Was ist Multiple Sklerose (MS)?
Multiple Sklerose ist die häufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems bei jungen Erwachsenen weißer Hautfarbe. Sie betrifft vor allem Gehirn und Rückenmark und kann eine Vielzahl körperlicher sowie kognitiver (geistiger) Beeinträchtigungen verursachen. Entzündungen und Schäden am Nervensystem können nach und nach alle Funktionen des Gehirns und der Nerven stören – zum Beispiel Bewegung, Wahrnehmung, Denken und Gefühle. Die häufigste Form der MS ist die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS), bei der auf Episoden des Auftretens oder der Verstärkung von Symptomen (Schübe) Phasen der Remission (Beschwerdefreiheit) folgen. Im Laufe der Zeit geht bei einigen Betroffenen die RRMS in eine sekundär progrediente MS (SPMS) über. Bei SPMS verschlechtert sich die Funktion von Gehirn und Nerven im Laufe der Zeit, und die Behinderung nimmt zu. Das Muster aus Schüben und anschließenden Remissionsphasen tritt nicht mehr auf.
Wie wird MS behandelt?
Da Multiple Sklerose bislang nicht heilbar ist, zielt die Behandlung darauf ab, Symptome zu lindern, die entzündliche Krankheitsaktivität zu verringern und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Dies geschieht durch sogenannte krankheitsmodifizierende Therapien (disease-modifying treatments, DMT), die mehrere Behandlungsziele haben. Sie sollen die Häufigkeit von Schüben verringern, das Entstehen neuer und das Wachsen bereits vorhandener Läsionen (Schädigungen im Gehirn, sichtbar in der Magnetresonanztomographie, kurz MRT) verhindern und das Fortschreiten der Behinderung verlangsamen. Natalizumab (NTZ) ist ein DMT, das für die Behandlung von RRMS zugelassen ist.
Was wollten wir herausfinden?
Wir wollten herausfinden, welchen Nutzen und Schaden NTZ allein oder in Kombination mit anderen Behandlungen für Menschen mit einer beliebigen Form von MS hat.
Uns interessierte Folgendes:
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Anzahl der Personen, die Rückfälle hatten;
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Anzahl der Personen, deren Behinderung sich verschlechtert hat;
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Anzahl der Personen, bei denen schwerwiegende unerwünschte Wirkungen auftraten;
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Auswirkungen auf die Lebensqualität;
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Anzahl der Personen, die aktive, durch MRT bestätigte Läsionen entwickelten;
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Anzahl der Personen, die die Behandlung aufgrund unerwünschter Wirkungen abgebrochen haben (Behandlungsabbruch).
Wie gingen wir vor?
Wir haben nach Studien gesucht, die NTZ bei Menschen mit einer beliebigen Form von MS untersuchten. Wir analysierten und verglichen die Ergebnisse der eingeschlossenen Studien und bewerteten unser Vertrauen in die Evidenz auf der Grundlage der Studienmethoden und der Größe der Studien.
Was fanden wir heraus?
Wir fanden fünf Studien mit insgesamt 3255 Personen. Die Studien wurden überwiegend in Europa und Nordamerika durchgeführt. Die Teilnehmenden waren überwiegend weiße Frauen.
Für RRMS:
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Im Vergleich zu Placebo bei zweijähriger Nachbeobachtung bewirkt NTZ:
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ein verringertes Risiko für Rückfälle und Behinderungen;
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wahrscheinlich eine leichte Verringerung schwerwiegender unerwünschter Wirkungen (wozu auch MS-Rückfälle zählten);
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eine geringfügige Verbesserung der Lebensqualität;
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einen Rückgang der auf dem MRT sichtbaren Krankheitsaktivität;
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wenig bis keine Unterschiede beim Abbruch der Behandlung aufgrund unerwünschter Wirkungen.
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Im Vergleich zu Biosimilar-NTZ führt NTZ bei einjähriger Nachbeobachtung
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möglicherweise zu keinen oder nur minimalen Unterschieden bei Nutzen und Schaden.
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Für SPMS:
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Im Vergleich zu Placebo bei zweijähriger Nachbeobachtung bewirkt NTZ:
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möglicherweise eine verringerte Rückfallquote;
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möglicherweise einen geringen oder gar keinen Unterschied im Fortschreiten der Behinderung sowie bei schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen oder beim Abbruch der Behandlung aufgrund unerwünschter Wirkungen;
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wahrscheinlich einen geringen bis gar keinen Unterschied in der Lebensqualität.
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Was schränkt die Aussagekraft der Evidenz ein?
Unser Vertrauen in die Evidenz war gemischt. In den Fällen, in denen die Vertrauenswürdigkeit eingeschränkt war, lag dies hauptsächlich an der geringen Größe der eingeschlossenen Studien. Darüber hinaus befürchteten wir, dass wirtschaftliche Eigeninteressen der Pharmaindustrie die Art und Weise der Ergebnisdarstellung beeinflusst haben könnten. Und schließlich war die Dauer der Studien mit maximal 24 Monaten für eine chronische Erkrankung wie MS vergleichsweise kurz.
Wie aktuell ist die vorliegende Evidenz?
Die Evidenz ist auf dem Stand von Februar 2024.
B. Schindler, M. Zeitler, freigegeben durch Cochrane Deutschland