Enterale Sondenernährung für Menschen mit schwerer Demenz

Was sind die Vorteile und Probleme der Sondenernährung bei Menschen mit schwerer Demenz?

Kernaussagen

Die Sondenernährung verlängert die Lebenszeit von Menschen mit schwerer Demenz im Vergleich zu Menschen ohne Sondenernährung möglicherweise nicht. Das Risiko, ein Druckgeschwür zu entwickeln, ist mit einer Ernährungssonde wahrscheinlich höher als ohne Sonde. In keiner Studie wurde die Lebensqualität untersucht. Wir brauchen mehr und bessere Studien, um die Sondenernährung bei schwer Demenzkranken zu untersuchen. Künftige Studien sollten sich auf ein breiteres Spektrum von Endpunkten konzentrieren, darunter Schmerzen, Lebensqualität und die Auswirkungen auf die Pflegenden.

Was ist Sondenernährung?

Jemandem, der nichts über den Mund zu sich nehmen kann, kann flüssige Nahrung über eine Magensonde verabreicht werden. Dies wird als enterale Sondenernährung bezeichnet. Die Sonde wird durch die Nase in den Magen gelegt (nasogastrale Sonde) oder durch einen kleinen Schnitt im Bauch in den Magen eingeführt (perkutane endoskopische Gastrostomie oder PEG).

Warum ist dies für Menschen mit Demenz wichtig?

Menschen mit Demenz haben oft Schwierigkeiten beim Essen und Trinken. In den frühen Stadien der Demenz kann es vorkommen, dass der Betroffene vergisst zu essen, dass er die Nahrung kaut, ohne sie zu schlucken, oder dass er während der Mahlzeiten verwirrt ist. Manche Betroffene nehmen den Geschmack und Geruch von Lebensmitteln anders wahr. In fortgeschrittenen Stadien der Demenz haben die Betroffenen oft Schluckbeschwerden. Es kann schwierig sein, eine ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sicherzustellen.

Menschen mit schwerer Demenz benötigen eine Vollzeitpflege. Oft sind es ihre Familien, die sich um sie kümmern. Die Entscheidung für oder gegen eine Sondenernährung bei Demenzkranken ist schwierig, denn die Sonde kann unangenehm oder sogar schmerzhaft sein und andere unerwünschte Wirkungen wie Lungenentzündung, Verschlechterung der Darm- oder Blasenkontrolle sowie Blutungen, Schwellungen und Infektionen verursachen. Der Schlauch kann Menschen mit schwerer Demenz verwirren und sie belasten, so dass sie versuchen, ihn zu entfernen.

Was wollten wir herausfinden?

Wir wollten wissen, ob Sondenernährung Menschen mit schwerer Demenz hilft, die Probleme beim Essen und Schlucken haben.

Wir interessierten uns für die Auswirkungen der Sondenernährung auf:

ihre Lebensdauer;

ihre Lebensqualität (Wohlbefinden); und

die Entstehung oder Heilung von Druckgeschwüren (auch als Dekubitus bezeichnet).

Wie gingen wir vor?
Wir suchten nach Studien, die untersuchten, ob eine

PEG im Vergleich zu keiner Sonde; eine nasogastrische Sonde im Vergleich zu keiner Sonde; PEG, nasogastrische und andere Arten der Sondenernährung im Vergleich zu keiner Sonde

wirksam war und ob die Sondenernährung bei Erwachsenen jeden Alters mit schwerer Demenz und unzureichender Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme unerwünschte Auswirkungen hatte.

Wir fassten die Ergebnisse der Studien zusammen, verglichen sie und bewerteten die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz anhand von Faktoren wie den Methoden und der Größe der Studien.

Was fanden wir heraus?

Wir haben 14 Studien mit 49.714 Teilnehmenden einbezogen. Davon waren 6203 sondenernährt und 43.511 nicht sondenernährt. Teilnehmende ohne Ernährungssonde erhielten eine Standardversorgung oder eine Standardversorgung mit zusätzlicher Förderung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme.

Hauptendpunkte

Bei Menschen mit schwerer Demenz im Vergleich zu keiner Sondenernährung:

Eine PEG hat möglicherweise keinen Einfluss auf die Lebenserwartung (4 Studien, 36.816 Personen) und führt zu einem geringfügigen Anstieg des Dekubitusrisikos (1 Studie, 4421 Personen). Wir wissen nicht, ob die nasogastrale Sondenernährung die Lebenserwartung oder das Dekubitusrisiko beeinflusst, da keine der eingeschlossenen Studien Informationen zu diesen Punkten lieferte. Studien mit PEG- oder nasogastralen Sonden haben gezeigt, dass die Sondenernährung möglicherweise die Lebenszeit verlängern kann (4 Studien, 1696 Menschen) und das Risiko der Entstehung von Druckgeschwüren leicht erhöht (3 Studien, 351 Menschen).

Keine der eingeschlossenen Studien berichtete über die Lebensqualität.

Was schränkt die Evidenz ein?

Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz, dass ein Dekubitus häufiger bei Personen auftritt, die mit einer PEG-Sonde ernährt wurden, ist moderat. Hinsichtlich der anderen Endpunkte ist die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz sehr gering bis gering.

Drei Hauptfaktoren haben unser Vertrauen in die Evidenz verringert. Erstens wurden die Studienteilnehmenden nicht nach dem Zufallsprinzip in verschiedene Behandlungsgruppen eingeteilt. Das bedeutet, dass die Unterschiede zwischen den Gruppen auf Unterschiede zwischen den Personen und nicht zwischen den Behandlungen zurückzuführen sein könnten. Aus ethischen Gründen wäre es jedoch sehr schwierig, dies in künftigen Studien zu tun. Zweitens waren die Ergebnisse der verschiedenen Studien sehr uneinheitlich. Schließlich waren einige Studien sehr klein.

Die Ergebnisse weiterer Studien könnten von den Ergebnissen dieses Reviews abweichen.

Wie aktuell ist die vorliegende Evidenz?

Die Evidenz ist auf dem Stand vom 14. April 2021.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

Wir fanden keine Belege dafür, dass eine Sondenernährung die Überlebensrate verbessert, die Lebensqualität erhöht, Schmerzen reduziert, die Sterblichkeit oder verhaltensbedingte und psychologische Symptome der Demenz verringert, den Ernährungszustand verbessert, positive Auswirkungen auf die Familie oder das Pflegepersonal hat, wie z. B. Depressionen, Ängste, Belastung des Pflegepersonals oder die Zufriedenheit mit der Pflege. Wir fanden Hinweise darauf, dass die enterale Sondenernährung ein klinisch signifikantes Risiko für Druckgeschwüre birgt. Künftige Forschungsarbeiten sollten sich auf eine bessere Berichterstattung und ein besseres Matching von Kontroll- und Interventionsgruppen sowie auf klar definierte Interventionen konzentrieren. Dabei sollten alle hier erwähnten Endpunkte gemessen werden.

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Hintergrund: 

Das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden der enteralen Sondenernährung bei Menschen mit schwerer Demenz ist nicht eindeutig. In immer mehr Leitlinien wird auf den nicht belegten Nutzen und die potenziellen Risiken der enteralen Sondenernährung hingewiesen. In einigen Regionen der Welt ist die Verwendung von enteraler Sondenernährung rückläufig, in anderen nimmt sie zu.

Zielsetzungen: 

Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit der enteralen Sondenernährung bei Menschen mit schwerer Demenz, die Probleme beim Essen und Schlucken haben oder die nicht genug Nahrung- und Flüssigkeit zu sich nehmen.

Suchstrategie: 

Wir durchsuchten am 14. April 2021 das Register der Cochrane Dementia and Cognitive Improvement Group (ALOIS), MEDLINE, Embase, vier weitere Datenbanken und zwei Studienregister.

Auswahlkriterien: 

Wir schlossen randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) oder kontrollierte nicht-randomisierte Studien ein. Unsere Zielgruppe waren Erwachsene jeden Alters mit der Diagnose einer primären degenerativen Demenz jeglicher Ursache mit schweren kognitiven und funktionellen Beeinträchtigungen und schlechter Nahrungsaufnahme. Die in Frage kommenden Studien untersuchten die Wirksamkeit und die Komplikationen der enteralen Sondenernährung über eine Gastrostomie-Sonde oder einer jejunalen postpylorischen Sondenernährung im Vergleich zu einer Standardversorgung oder einer verbesserten Standardversorgung, z. B. einer Maßnahme zur Förderung der oralen Aufnahme. Unsere primären Endpunkte waren Überlebenszeit, Lebensqualität und Druckgeschwüre.

Datensammlung und ‐analyse: 

Drei Autor*innen überprüften die gefundenen Treffer und zwei Autor*innen bewerteten die Volltexte der potenziell in Frage kommenden Studien anhand der Einschlusskriterien. Die von einer Person extrahierten Daten wurden von einer zweiten Person überprüft. Zur Bewertung des Verzerrungsrisikos in den eingeschlossenen Studien verwendeten wir das Instrument 'Risk Of Bias In Non-randomised Studies of Interventions' (ROBINS-I). Das Risiko von Störfaktoren wurde anhand einer vorab festgelegten Liste der wichtigsten potenziellen Variablen für Störfaktoren abgeschätzt. Unsere primären Endpunkte waren Überlebenszeit, Lebensqualität und Druckgeschwüre. Die Ergebnisse der Einzelstudien eigneten sich nicht für eine Metaanalyse und wurden daher narrativ dargestellt. Wir stellten die Endpunkte getrennt dar für Studien zur perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG), zur Ernährung mit nasogastraler Sonde und für Studien mit gemischter oder nicht spezifizierter enteraler Sondenernährung. Wir wandten die GRADE-Methodik an, um die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für jedes Ergebnis der Studien einzustufen.

Hauptergebnisse: 

Wir fanden keine geeigneten RCTs. Wir schlossen vierzehn kontrollierte, nicht-randomisierte Studien ein. In allen eingeschlossenen Studien wurden Gruppen von Personen verglichen, die nach vorheriger Entscheidung einer medizinischen Fachkraft einer enteralen Sondenernährung oder einer oralen Ernährung zugewiesen worden waren. Einige Studien kontrollierten eine Reihe von Störfaktoren, aber in allen Studien bestand ein hohes oder sehr hohes Risiko einer Verzerrung durch Störfaktoren, und in einigen Studien bestand ein hohes oder kritisches Risiko einer Auswahlverzerrung.

In vier Studien mit 36.816 Teilnehmern wurde die Auswirkung der PEG-Ernährung auf die Überlebenszeit untersucht. Keine der Studien ergab Hinweise auf Auswirkungen auf die Überlebenszeit (geringe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Bei drei von vier Studien, in denen gemischte oder nicht spezifizierte enterale Sondenernährung bei 310 Teilnehmenden (227 enterale Sondenernährung, 83 keine enterale Sondenernährung) verwendet wurden, war diese mit einer längeren Überlebenszeit verbunden. Die vierte Studie mit 1386 Teilnehmenden: (135 enterale Sondenernährung, 1251 keine enterale Sondenernährung) fand keine Hinweise auf einen Effekt. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist sehr niedrig.

Eine Studie zur PEG-Ernährung mit 4421 Teilnehmenden: (1585 PEG, 2836 keine enterale Sondenernährung) stellte fest, dass die PEG-Ernährung das Risiko von Druckgeschwüren erhöht (moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Zwei von drei Studien berichteten über einen Anstieg der Anzahl von Druckgeschwüren bei Personen, die gemischte oder nicht spezifizierte enterale Sondenernährung erhielten (234 Teilnehmende: 88 enterale Sondenernährung, 146 keine enterale Sondenernährung). In der dritten Studie wurde keine Wirkung festgestellt (sehr geringe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Zwei Studien zur nasogastralen Sondenernährung lieferten keine Daten zur Überlebenszeit oder zu Druckgeschwüren.

Keine der eingeschlossenen Studien berichtete über die Lebensqualität.

Nur eine Studie, in der verschiedene Arten der enteralen Sondenernährung angewandt wurden, berichtete über Schmerzen und Wohlbefinden und fand keinen Unterschied zwischen den Gruppen. In derselben Studie gab ein höherer Anteil der Pflegenden in der Gruppe mit enteraler Sondenernährung eine sehr starke Belastung an als in der Gruppe ohne enterale Sondenernährung.

Zwei Studien untersuchten die Auswirkungen der nasogastrischen Sondenernährung auf die Sterblichkeit (236 Teilnehmende: 144 nasogastrale Gruppe, 92 keine enterale Sondenernährung). In einer Studie mit 67 Teilnehmenden (14 mit nasogastraler, 53 ohne enterale Sondenernährung) war die nasogastrale Ernährung mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden. In der zweiten Studie wurde kein Unterschied in der Sterblichkeit zwischen den Gruppen festgestellt. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist sehr niedrig. Die Ergebnisse zur Sterblichkeit bei denjenigen, die eine PEG oder verschiedene Arten einer enteralen Sondenernährung erhielten, waren uneinheitlich und die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist sehr gering. In zwei Studien gab es Hinweise darauf, dass die enterale Sondenernährung Ernährungsparameter verbessert, allerdings ist die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz sehr gering. Fünf Studien berichteten über verschiedene schadensbezogene Endpunkte mit uneinheitlichen Resultaten. Die Gesamtheit der Evidenz deutet auf ein erhöhtes Risiko einer Lungenentzündung bei enteraler Sondenernährung hin.

Keine der eingeschlossenen Studien erfasste verhaltensbezogene und psychologische Symptome der Demenz.

Anmerkungen zur Übersetzung: 

B. Schindler, T. Lempert, freigegeben durch Cochrane Deutschland

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