Nicht-medikamentöse Behandlungen bei räumlichem Neglect/Aufmerksamkeitsstörungen nach Schlaganfällen oder Hirnverletzungen bei Erwachsenen

Was war das Ziel dieses Reviews?
Viele Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben, sind von einem räumlichen Neglect oder einer Aufmerksamkeitsstörung betroffen. Räumlicher Neglect bedeutet, dass die Wahrnehmung einer Person für eine Körperseite oder das Umfeld eingeschränkt ist. Dies kann die Fähigkeit der betroffenen Person zur Durchführung vieler Alltagsaufgaben wie z. B. essen, lesen und anziehen und damit ihre Selbstständigkeit einschränken.

Was wollten wir herausfinden?
Wir wollten herausfinden, ob nicht-medikamentöse Behandlungen:
- die Fähigkeit der Patienten zur Durchführung von Aktivitäten des täglichen Lebens verbessern; und
- den räumlichen Neglect verringern

Wie gingen wir vor?
Wir begutachteten die Evidenz aus randomisierten Studien - aus Forschungsarbeiten, in denen zwei verschiedene Behandlungen miteinander verglichen wurden, indem Menschen mit einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung zufällig der einen oder der anderen Behandlung zugeteilt wurden.

Es wurde Evidenz von 1966 bis Oktober 2020 begutachtet.

Welche Evidenz fanden wir?
Wir fanden 65 Studien mit 1951 Teilnehmenden.

Alle Studien schlossen Teilnehmende mit einem räumlichen Neglect infolge eines Schlaganfalls ein. Es ist überraschend, dass nur eine Studie drei Teilnehmende mit einem räumlichen Neglect aufgrund einer anderen Art von Hirnverletzung einschloss.

Alle Studien schlossen Teilnehmende mit einer rechtsseitigen Schädigung des Gehirns ein; sieben Studien schlossen auch Teilnehmende mit einer linksseitigen Schädigung ein.

Mit 4 bis 69 Teilnehmenden (Durchschnitt 30) wurden die Studiengrößen als klein betrachtet. Acht Studien umfassten 50 oder mehr Teilnehmende; vier Studien umfassten 10 oder weniger Teilnehmende.

Keine der Studien berichtete über eine Beteiligung von Patienten oder der Öffentlichkeit an der Art und Weise, wie die Studien konzipiert, durchgeführt oder berichtet wurden.

Wir teilten die Studien in acht verschiedene Behandlungsarten ein.

- Visuelle Behandlung: 17 Studien mit 398 Teilnehmenden untersuchten visuelle Behandlungsformen (das heißt Maßnahmen, die über Seheindrücke beziehungsweise mit den Augen wahrnehmbare Reize arbeiten). Alle Behandlungen förderten Augenbewegungen oder Scanning (eine Funktion der Wahrnehmung über die Augen zur Erkennung visueller Reize) durch verschiedene Methoden, darunter papiergestützte Aufgaben, Computeraktivitäten und Aktivitäten des täglichen Lebens.

- Prismen-Adaptationstraining: 8 Studien mit 257 Teilnehmenden untersuchten Behandlungsformen mit einem Prismen-Adaptationstraining (-Anpassungstraining). Dabei trugen die Teilnehmenden bei der Durchführung von Zeigeaktivitäten eine Prismen-Brille.

- Behandlungen zur Körperwahrnehmung: 12 Studien mit 447 Teilnehmenden untersuchten Behandlungen zur Förderung der Körperwahrnehmung. Diese Studien beinhalteten verschiedene körperliche, visuelle oder verbale (gesprochene) Aufforderungen oder Hinweise (engl. „cueing“), die darauf abzielten, das Bewusstsein für die betroffene Seite zu verbessern.

- Behandlungen der mentalen Funktionsfähigkeit: 7 Studien mit 170 Teilnehmenden untersuchten Behandlungen, die sich auf die mentale Verarbeitung beziehungsweise das Denken konzentrierten (z. B. mentale Vorstellung von Bildern, virtuelle Realität).

- Bewegungsbehandlungen: 6 Studien mit 220 Teilnehmenden untersuchten Behandlungen, bei denen Bewegungen des Arms oder des ganzen Körpers eingesetzt wurden. Dazu gehörten der Einsatz von Robotik, visuelles und motorisches Feedback sowie die Einschränkung der Bewegung auf der nicht betroffenen Körperseite.

- Nicht-invasive Hirnstimulation: 17 Studien mit 467 Teilnehmenden untersuchten eine nicht-invasive Hirnstimulation. Diese umfasste verschiedene Methoden der Anwendung einer elektrischen oder magnetischen Stimulation am Schädel zur Veränderung der Gehirnaktivität.

- Elektrische Stimulation: 8 Studien mit 270 Teilnehmenden untersuchten eine Elektrostimulation an anderen Körperstellen. Diese beinhaltete das Aussenden schwacher elektrischer Impulse an ein bestimmtes Körperteil (z. B. den Arm). Es wurden vier verschiedene Arten von Elektrostimulation verwendet.

- Akupunktur: 2 Studien mit 104 Teilnehmenden untersuchten den Einsatz von Akupunktur. Diese beinhaltete das Setzen dünner Nadeln in bestimmte Körperpunkte.

Wie war die Qualität der Evidenz?
Wir bewerteten die Evidenz zur Anwendung der untersuchten Behandlungen. Die Qualität war sehr niedrig aufgrund:

- der geringen Größe der Studien;
- von Unterschieden zwischen den Studien innerhalb der acht Behandlungskategorien in den Merkmalen der Teilnehmenden, der Behandlungsarten und der zur Erhebung der Veränderungen erfassten Untersuchungsverfahren; und
- Bedenken in Bezug auf die zufällige Zuteilung der Teilnehmenden zu den Studiengruppen und die „Verblindung“ der Personen, die die Ergebnismessungen durchführten (wenn bekannt war, welche Behandlung jeder Teilnehmende erhielt, war die Person nicht verblindet).

Was waren die wichtigsten Ergebnisse?

Die meisten Studien verwendeten Standardtests zur Erhebung des räumlichen Neglects. Viele ermittelten auch die Wirkungen auf Aktivitäten des täglichen Lebens kurz nach der Behandlung, jedoch beschrieben nur sehr wenige der Studien längerfristige Wirkungen.

Andere aussagekräftige Behandlungsergebnisse wurden nur in wenigen Fällen berichtet.

Insgesamt fanden wir nur Evidenz von sehr niedriger Qualität dazu, ob die untersuchten Behandlungen für Menschen mit einem räumlichen Neglect nützlich oder schädlich sind.

Was bedeutet das?

Trotz 65 (kleiner) Studien sind der Nutzen oder die Risiken nicht-medikamentöser Behandlungen zur Verringerung eines räumlichen Neglects und zur Erhöhung der Unabhängigkeit weiterhin unklar. Aus diesem Review lässt sich nicht schlussfolgern, dass die vorgeschlagenen Behandlungen nicht wirksam sind. Vielmehr kommen wir zu dem Schluss, dass die Evidenz für oder gegen eine Behandlung im Rahmen der weltweit durchgeführten randomisierten Studien nicht ausreichend ist. Zur Beantwortung wichtiger klinischer Fragen, müssen zukünftige Studien eine weitaus höhere Qualität aufweisen. Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Qualität der Forschung ist der Einbezug von Patienten in die Planung und Durchführung von Studien. Klinisch tätige Personen sollten weiterhin nationalen klinischen Leitlinien folgen und werden zur Teilnahme an Studien aufgefordert. Menschen mit einem räumlichen Neglect sollten zur Erreichung ihrer Rehabilitationsziele weiterhin eine allgemeine Schlaganfall- oder neurologische Rehabilitation erhalten, einschließlich aller für die Beeinflussung eines Neglect verfügbaren Interventionen. Auch Menschen mit einem räumlichen Neglect sollten die Möglichkeit haben, an hochwertigen Forschungsprojekten teilzunehmen.

Anmerkungen zur Übersetzung: 

T. Boßmann, C. Braun, freigegeben durch Cochrane Deutschland.

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