Sehr frühe versus später einsetzende Mobilisation nach Schlaganfall

Reviewfrage
Führt eine sehr frühe und aktive Mobilisation nach einem Schlaganfall im Vergleich zu einer später einsetzenden Mobilisation zu einem besserem Genesungsverlauf?

Hintergrund
Es wird empfohlen, Menschen nach einem Schlaganfall zeitnah in einer Stroke Unit (einer auf Schlaganfall-Patienten spezialisierten Abteilung) zu versorgen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit den Schlaganfall zu überleben, nach Hause zurückzukehren und wieder unabhängig zu werden. In einigen Stroke Units wird eine sehr frühe Mobilisation (im Sinne der Unterstützung des sehr frühen und häufigeren Aufstehens aus dem Bett nach Einsetzen der Schlaganfall-Symptome) durchgeführt, die in vielen Leitlinien zur Akutversorgung nach Schlaganfall empfohlen wird. Die Auswirkungen der sehr frühen Mobilisation auf den Genesungsverlauf nach einem Schlaganfall sind jedoch unklar.

Recherchedatum
Dieser Review ist auf dem Stand von Juli 2017.

Studienmerkmale
In diesem Review wurden neun Studien (2958 Teilnehmer) identifiziert, von denen eine (2104 Teilnehmer) die meisten Informationen lieferte. Die sehr frühe Mobilisation begann durchschnittlich 18,5 Stunden nach dem Schlaganfall, verglichen mit 33,3 Stunden in den Gruppen, in denen die Teilnehmer eine herkömmliche Versorgung erhielten. Fünf Studien ergaben, dass die Teilnehmer der Gruppe, die sehr früh mobilisiert wurde, pro Tag mehr Zeit in der Therapie verbrachten oder an einer mobilisierenden Aktivität teilnahmen.

Hauptergebnisse
Die sehr frühe Mobilisation bewirkte keinen Anstieg der Zahl der Überlebenden oder Patienten mit einem guten Genesungsverlauf nach dem Schlaganfall. Es gab Hinweise dafür, dass eine sehr frühe Mobilisation die Länge des Krankenhausaufenthalts möglicherweise um ungefähr einen Tag verringert. Die Ergebnisse der größten Studie sowie einer Analyse der Studien, in denen sehr früh mit der Mobilisation begonnen wurde, deuteten jedoch darauf hin, dass der Beginn einer intensiven Mobilisation innerhalb von 24 Stunden nach dem Schlaganfall möglicherweise ein erhöhtes Risiko darstellt, zumindest für manche Schlaganfallpatienten. Dieses potentielle Risiko muss geklärt werden.

Qualität der Evidenz
Insgesamt wurden die Hauptergebnisse durch Evidenz (wissenschaftliche Belege) von moderater Qualität gestützt. Für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes sowie Aktivitäten des täglichen Lebens war die Qualität der Evidenz jedoch niedrig.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

VEM, bei der es sich in der Regel um eine erste Mobilisation innerhalb von 24 Stunden nach Beginn des Schlaganfalls handelt, erhöhte nicht die Anzahl der Menschen, die nach dem Schlaganfall überlebten oder einen guten Genesungsverlauf erreichten. VEM könnte die Verweildauer im Krankenhaus um etwa einen Tag verkürzt haben, dies basierte jedoch auf Evidenz von niedriger Qualität. Basierend auf den im größten RCT berichteten potenziellen Gefahren, der Sensitivitätsanalyse von Studien, die innerhalb von 24 Stunden mit der Mobilisation begannen, und der NMA bestand die Befürchtung, dass VEM, die innerhalb von 24 Stunden beginnen, zumindest bei einigen Menschen mit einem Schlaganfall ein erhöhtes Risiko bergen könnten. Angesichts der Unsicherheit über diese Effektschätzungen ist weitere, ausführlichere Forschung erforderlich.

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Hintergrund: 

Die sehr frühe Mobilisation (Very early mobilisation, VEM) wird in einigen Stroke Units durchgeführt und in einigen Leitlinien für akute Schlaganfälle empfohlen. Es ist jedoch unklar, ob eine sehr frühe Mobilisation selbst, das Ergebnis nach einem Schlaganfall verbessert.

Zielsetzungen: 

Das Ziel war es festzustellen, ob eine sehr frühe Mobilisation (Beginn so früh wie möglich und spätestens 48 Stunden nach Auftreten der Symptome) bei Menschen mit akutem Schlaganfall den Genesungsverlauf (vor allem den Anteil von Überlebenden, die sich selbstständig versorgen können) im Vergleich zur herkömmlichen Versorgung verbessert.

Suchstrategie: 

Wir durchsuchten das Studienregister der Cochrane Stroke Group (zuletzt am 31. Juli 2017). Wir haben außerdem 19 elektronische Datenbanken systematisch durchsucht, darunter: CENTRAL; 2017, Ausgabe 7 in der Cochrane Library (durchsucht im Juli 2017), MEDLINE Ovid (1950 bis August 2017), Embase Ovid (1980 bis August 2017), CINAHL EBSCO (Cumulative Index to Nursing and Allied Health Literature; 1937 bis August 2017), PsycINFO Ovid (1806 bis August 2017), AMED Ovid (Allied and Complementary Medicine Database), SPORTDiscus EBSCO (1830 bis August 2017). Wir suchten nach relevanten laufenden Studien und durchsuchten Forschungsregister (durchsucht im Dezemberber 2016), die chinesische, medizinische Datenbank Wanfangdata (durchsucht bis November 2016) und Referenzlisten und kontaktierten Forscher in diesem Gebiet.

Auswahlkriterien: 

Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit Menschen mit akutem Schlaganfall, in denen Interventionsgruppen, die innerhalb von 48 Stunden nach dem Schlaganfall mit der Mobilisation aus dem Bett begonnen hatten und die darauf abzielten, die Zeit bis zur ersten Mobilisierung, mit oder ohne Erhöhung des Umfangs oder der Häufigkeit (oder beider) der Mobilisation zu verkürzen, mit herkömmlicher Versorgung verglichen wurden, bei der später mit der ersten Mobilisation begonnen wurde.

Datensammlung und ‐analyse: 

Zwei Review-Autoren wählten unabhängig voneinander die Studien aus, führten die Datenextraktion durch, beurteilten das Risiko für Bias und wandten den GRADE-Ansatz zur Bewertung der Qualität der Evidenz an. Der primäre Endpunkt war Sterblichkeit oder ein negativer Endpunkt (Abhängigkeit oder Institutionalisierung) am Ende der geplanten Nachbeobachtung. Zu den sekundären Endpunkten gehörten Sterblichkeit, Abhängigkeit, Institutionalisierung, Alltagsaktivitäten (activities of daily living, ADL), erweiterte ADL, Lebensqualität, Gehfähigkeit, Komplikationen (z.B. tiefe Venenthrombose), Stimmung der Patienten und Dauer des Krankenhausaufenthalts. Wir haben außerdem die Endpunkte nach dreimonatiger Nachbeobachtung analysiert.

Hauptergebnisse: 

Wir haben neun RCTs mit 2958 Teilnehmern eingeschlossen; eine Studie lieferte die meisten der Informationen (2104 Teilnehmer). Der Median (Spannweite) der Verzögerung bis zum Beginn der Mobilisation nach Schlaganfallbeginn betrug 18,5 (13,1 bis 43) Stunden in der VEM-Gruppe und 33,3 (22,5 bis 71,5) Stunden in der Gruppe mit herkömmlicher Versorgung. Die Differenz innerhalb der Studien betrug im Median 12,7 (4 bis 45,6) Stunden. Andere Unterschiede bezüglich der Intervention variierten zwischen den Studien; fünf Studien berichteten, dass die VEM-Gruppe mehr Zeit in der Therapie oder mehr Mobilisation erhalten hat.

Primäre Endpunkt-Daten waren für 2542 von 2618 (97,1%) randomisierte Teilnehmer verfügbar und wurden im Median für drei Monate nachbeobachtet. VEM führte wahrscheinlich zu ähnlich vielen oder etwas mehr Todesfällen und Teilnehmern, die einen negativen Endpunkt hatten, im Vergleich zur später einsetzenden Mobilisation (51% gegenüber 49%; Odds Ratio (OR) 1,08, 95% Konfidenzintervall (KI) 0,92 bis 1,26; P = 0,36; 8 Studien; Evidenz von moderater Qualität). Die Sterblichkeit lag bei 7% der Teilnehmer, die eine später einsetzende Mobilisation erhielten, und bei 8,5% der Teilnehmer, die VEM erhielten (OR 1,27, 95% KI 0,95 bis 1,70; P = 0,11; 8 Studien, 2570 Teilnehmer; Evidenz von moderater Qualität), und die Auswirkungen auf das Auftreten von Komplikationen waren unklar (OR 0,88; 95% KI 0,73 bis 1,06; P = 0,18; 7 Studien, 2778 Teilnehmer; Evidenz von niedriger Qualität). Die Analyse der Endpunkte, die nur bei der dreimonatigen Nachbeobachtung erhoben wurden, änderte nichts an den Schlussfolgerungen.

Der Mittelwert des ADL-Scores (gemessen am Ende der Nachbeobachtung mit dem 20-Punkte-Barthel-Index) war bei denjenigen, die VEM erhielten, höher als bei der Gruppe mit herkömmlicher Versorgung (Mittelwertdifferenz (MD) 1,94, 95% KI 0,75 bis 3,13, P = 0,001; 8 Studien, 9 Vergleiche, 2630/2904 Teilnehmer (90,6%); Evidenz von niedriger Qualität), mit einer erheblichen Heterogenität (93%). Die Effektgrößen waren für Endpunkte, die während der dreimonatigen Nachbeobachtung erhoben wurden, kleiner als für jene, die später erhoben wurden.

Die durchschnittliche Verweildauer war bei denen, die VEM erhielten, im Vergleich zur Gruppe mit herkömmlicher Versorgung kürzer (MD -1,44, 95% KI -2,28 bis -0,60, P = 0,0008; 8 Studien, 2532/2618 Teilnehmer (96,7%); Evidenz von niedriger Qualität). Die Vertrauenswürdigkeiten des Ergebnisses wurde durch die unterschiedlichen Definitionen der Verweildauer eingeschränkt. Die anderen Analysen der sekundären Endpunkte (Institutionalisierung, erweiterte ADLs, Lebensqualität, Gehfähigkeit, Stimmung der Patienten) waren aufgrund von fehlenden Daten eingeschränkt.

Sensitivitätsanalysen nach Studienqualität: Keine der Schlussfolgerungen hinsichtlich der Endpunkte wurde geändert, wenn wir die Analysen auf Studien mit dem geringsten Risiko für Bias (basierend auf der Randomisierungsmethode, verdeckter Zuteilung, der Vollständigkeit der Nachbeobachtung und der Verblindung der abschließenden Beurteilung) oder auf Informationen über den Grad der Mobilisierung, beschränkten.

Sensitivitätsanalyse nach Interventionsmerkmalen: Analysen, die sich auf Studien beschränkten, bei denen die durchschnittliche VEM-Zeit bis zur ersten Mobilisation weniger als 24 Stunden betrug, zeigten eine Wahrscheinlichkeit für Sterblichkeit von 1,35 (95% KI 0,99 bis 1,83; P = 0,06; I² = 25%; 5 Studien). Analysen, die sich auf die Studien beschränkten, die eindeutig über eine länger andauernde Aktivität außerhalb des Bettes berichteten, zeigten einen ähnlichen primären Endpunkt (OR 1,14; 0,96 bis 1,35; P = 0,13; I² = 28%; 5 Studien) und eine ähnliche Wahrscheinlichkeit für Sterblichkeit (OR 1,27; 0,93 bis 1,73; P = 0,13; I² = 0%; 4 Studien) wie die Hauptanalyse.

VEM führte wahrscheinlich zu ähnlich vielen oder etwas mehr Todesfällen und Teilnehmern ,die einen negativen Endpunkt hatten, im Vergleich zur später einsetzenden Mobilisation (51% gegenüber 49%; Odds Ratio (OR) 1,08, 95% Konfidenzintervall (KI) 0,92 bis 1,26; P = 0,36; 8 Studien; Evidenz von moderater Qualität).

Anmerkungen zur Übersetzung: 

Abstract: J. Meichlinger; PLS: C. Braun, T. Bossmann, Koordination durch Cochrane Deutschland.

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