Konservative Interventionen zur Behandlung von Harninkontinenz bei Frauen: eine Übersicht über Cochrane Reviews

Was ist Harninkontinenz?

Harninkontinenz, der unwillkürliche (ungewollte) Verlust von Urin, ist bei Frauen weit verbreitet. Wenn ein häufiger Drang besteht, auf die Toilette gehen zu müssen, und dies manchmal nicht mehr rechtzeitig gelingt, spricht man von einer Dranginkontinenz. Eine Dranginkontinenz tritt auf, wenn der Impuls zur Entleerung der Blase aus verschiedenen Gründen stärker und häufiger als eigentlich notwendig eintritt. Ein Harnverlust beim Niesen oder bei körperlicher Aktivität wird als Belastungsinkontinenz bezeichnet und kann auftreten, wenn die Blasenschließmuskulatur schwächer ist als sie es sein sollte. Frauen können auch unter einer Mischung aus diesen beiden Inkontinenzformen leiden; dies wird als Mischinkontinenz bezeichnet.

Harninkontinenz-Symptome können sehr belastend sein. Zum Beispiel haben die betroffenen Frauen häufig Hemmungen auszugehen, spazieren zu gehen oder an Bewegungsangeboten teilzunehmen. Die betroffenen Frauen fühlen sich häufig isoliert, und ihre Lebensqualität ist deutlich schlechter als die Lebensqualität von Frauen ohne Harninkontinenz.

Wie wird Harninkontinenz behandelt?

Behandlungsoptionen bei Harninkontinenz sind hauptsächlich eine „konservative Behandlung“ (das Vermeiden invasiver Maßnahmen), Medikamente und Operationen. Als erstes sollten konservative Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden. Diese umfassen ein Training der Beckenbodenmuskulatur (die Muskeln zwischen dem Steißbein und Schambein, die Blase, Darm, Vagina und Gebärmutter stützt) (mit oder ohne Zusatzbehandlungen wie eine Elektrostimulation), ein Blasentraining und Hilfsmittel. Diese Behandlungsmaßnahmen werden in der Regel von Physiotherapeut*innen oder speziell ausgebildeten Pflegefachpersonen durchgeführt.

Was war unser Ziel?

Es gibt eine wachsende Zahl von Cochrane Reviews zur konservativen Behandlung von verschiedenen Harninkontinenz-Formen. Unser Ziel war es, die Ergebnisse dieser Reviews in einer Übersichtsarbeit zusammenzufassen, mit Beiträgen von Kliniker*innen und von Inkontinenz betroffenen Frauen.

Wie aktuell ist diese Übersicht?

Diese Übersicht ist auf dem Stand von 18. Januar 2021.

Wie gingen wir vor?

Wir suchten nach Cochrane Reviews zur konservativen Behandlung von Harninkontinenz bei Frauen und fanden 29 relevante Reviews. Diesen Reviews entnahmen wir Daten über die Art der Behandlung und womit sie verglichen wurde, und stellten sie in Tabellen zusammen. Die Vergleiche konnten eine Kontrollbehandlung (z. B. eine Scheinbehandlung oder die Regelversorgung), eine andere konservative Behandlung oder eine nicht konservative Behandlung sein. Wir ermittelten zwei Haupt-Endpunkte, die für die betroffenen Frauen wichtig waren: die erfolgreiche Behebung der Inkontinenz und die Verbesserung der Lebensqualität. Wir bewerteten die Qualität der in unsere Übersicht eingeschlossenen Reviews und die Vertrauenswürdigkeit der in den Review enthaltenen Daten (d. h., inwiefern die Ergebnisse der Reviews korrekt sind und ein Ergebnis stützen oder widerlegen).

Hauptergebnisse

Es gibt Evidenz von hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining die Symptome beheben und die Lebensqualität bei allen Formen von Harninkontinenz verbessern kann. Es gibt Evidenz von moderater bis hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining wirksamer ist, wenn es intensiver durchgeführt wird, stärker durch Gesundheitsfachpersonen unterstützt wird und mit Strategien zur Förderung einer fortgesetzten, regelmäßigen Durchführung kombiniert wird. Änderungen der Lebensweise, wie z. B. eine Gewichtsabnahme und der Versuch, die Häufigkeit der Blasenentleerung zu kontrollieren, können bei einigen Formen von Harninkontinenz ebenfalls hilfreich sein. Darüber hinaus kann der Einsatz von ergänzenden Maßnahmen wie einer Elektrostimulation hilfreich sein, insbesondere bei Misch- oder Dranginkontinenz.

Qualität der Evidenz

Ungefähr die Hälfte unserer Ergebnisse lieferten Evidenz von moderater oder hoher Vertrauenswürdigkeit. 81 % unserer Ergebnisse aus den Analysen innerhalb der Reviews enthielten Daten aus nur einer Studie. Bei diesen Reviews war es nicht möglich, die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenzufassen. Zu einigen verbreitet angewandten Behandlungen wie z. B. psychologische Therapien konnten wir keine Cochrane Reviews finden. Insgesamt fehlen Langzeitergebnisse, und schränkte die Anwendung verschiedener Ergebnismessungen die Möglichkeit ein, die Ergebnisse mit statistischen Methoden zusammenzufassen, um ein aussagekräftiges Gesamtergebnis zu ermitteln.

Schlussfolgerungen der Autoren

Es gibt umfangreiche Evidenz zur konservativen Behandlung von Harninkontinenz bei Frauen. Die Durchführung eines Beckenbodentrainings sollte den meisten Patientinnen unabhängig von der Form der Inkontinenz nachdrücklich empfohlen werden. Die derzeitig verfügbare Evidenz zur konservativen Behandlung von Harninkontinenz weist jedoch eine Reihe von Einschränkungen auf und stützt in vielen Fällen keine klaren klinischen Entscheidungen. Es besteht ein dringender Bedarf an weitern wissenschaftlichen Untersuchungen, um hochwertige Evidenz zu Fragestellungen zu gewinnen, die für Frauen mit Harninkontinenz von Bedeutung sind.

Schlussfolgerungen der Autoren: 

Es gibt Evidenz von hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining verglichen mit einer Kontrollgruppe bei allen Arten von Harninkontinenz bezogen auf die Endpunkte Behebung der Inkontinenz oder Verbesserung der Lebensqualität vorteilhafter ist. Es gibt Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit dafür, dass die Wirksamkeit eines Beckenbodentraining besser ist, wenn es intensiver, häufiger, unter individueller Betreuung durch eine Gesundheitsfachperson, in/ohne Kombination mit einer Verhaltensintervention oder mit/ohne einer Strategie zur Einhaltung des Trainings durchgeführt wird. Es gibt Evidenz von hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass die Verwendung von Konen bezogen auf die Heilung oder Verbesserung einer Harninkontinenz für Frauen mit Belastungsinkontinenz verglichen mit einer Kontrollgruppe (nicht aber verglichen mit einem Beckenbodentraining PFMT) zu einem besseren Ergebnis führt. Gleiches gilt für eine Elektrostimulation bei Frauen mit Dranginkontinenz und für eine Gewichtsabnahme bei Frauen in der Gesamtgruppe (von Frauen mit jeglicher Art von Harninkontinenz), die verglichen mit einer Kontrollgruppe zu einem besseren Ergebnis führen.

Der Großteil der in den in diese Übersicht eingeschlossenen Cochrane Reviews enthaltenen Evidenz ist von niedriger Vertrauenswürdigkeit. Es ist wichtig, dass neue und aktualisierte Cochrane Reviews zukünftig Fragestellungen entwickeln, die von einer höheren klinischen Bedeutsamkeit sind, dass die Erstellung von mehreren, sich überlappende Reviews vermieden wird, und dass Frauen mit Harninkontinenz in die Erstellung der Reviews einbezogen werden, um weitere wichtige Endpunkte zu ermitteln.

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Hintergrund: 

Unter Harninkontinenz versteht man den unwillkürlichen (ungewollten) Verlust von Urin (Harn). Eine Harninkontinenz kann verschiedene Ursachen haben. Die häufigsten Formen von Harninkontinenz sind Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz und Mischinkontinenz (eine Kombination aus Belastungs- und Dranginkontinenz). Es gibt viele verschiedene Interventionen zur Verringerung der Harninkontinenz-Symptome bei Frauen. Konservative (nicht-operative) Interventionen werden generell als Therapie der ersten Wahl empfohlen.

Zielsetzungen: 

Ziel dieser Übersicht war es, Cochrane Reviews zusammenzufassen, in denen die Wirkungen von konservativen Interventionen zur Behandlung von Harninkontinenz bei Frauen bewertet wurden.

Methoden: 

Wir durchsuchten die Cochrane Library bis Januar 2021 (CDSR; 2021, 1. Ausgabe) und berücksichtigten alle Cochrane Reviews, in die Studien mit Frauen im Alter von mindestens 18 Jahren mit einer klinischen Diagnose einer Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz oder Mischinkontinenz eingeschlossen wurden und in denen eine konservative Intervention zur Verbesserung oder Behebung einer Harninkontinenz untersucht wurde. Wir schlossen Reviews ein, in denen eine konservative Intervention mit einer Kontrollgruppe (einer Placebo-Behandlung, keiner Behandlung oder der Regelversorgung), einer anderen konservativen Intervention oder einer anderen aktiven, aber nicht konservativen, Intervention verglichen wurde. Eine Interessensvertreter*innen-Gruppe war an der Auswahl und Zusammenfassung der Evidenz beteiligt.

Zwei Autor*innen dieser Übersicht wendeten unabhängig voneinander die Einschlusskriterien an, übertrugen die Daten und bewerteten die Qualität der Reviews. Uneinigkeiten wurden durch Diskussion gelöst. Die primären interessierenden Endpunkte waren die durch die Patient*innen berichtete Behebung oder Verbesserung der Harninkontinenz und die beschwerdebezogene Lebensqualität. Das Risiko für Bias in den eingeschlossenen Reviews wurde mithilfe des ROBIS-Instruments bewertet. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz wurde mithilfe des GRADE-Ansatzes bewertet. Die Evidenz zur Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz und allen Harninkontinenz-Formen zusammen (Gesamtgruppe) wurde separat zusammengefasst. In der Gesamtgruppe wurde die Evidenz von Teilnehmerinnen mit Mischinkontinenz berücksichtigt sowie die Evidenz aus Studien mit Frauen mit unterschiedlichen Diagnosen (d.h. Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz und Mischinkontinenz) und aus Studien, in denen die Art der Harninkontinenz unklar war.

Hauptergebnisse: 

Wir schlossen 29 relevante Cochrane Reviews ein. In sieben Studien lag der Fokus auf physikalischen Therapien, in fünf auf Edukation (unterrichtenden Maßnahmen) und Verhaltens- und Lebensstilberatung, bei einer auf der Anwendung mechanischer Hilfsmittel, bei einer weiteren auf Akupunktur und bei einer auf Yoga. In 14 Studien lag der Fokus auf nicht konservativen Interventionen, die jedoch mit einer konservativen Intervention verglichen wurden. Es gab keine Reviews, bei denen die Evidenz zu psychologischen Therapien zusammengefasst wurde. Es gab 112 eigenständige Studien (mit insgesamt 8975 Frauen), die Ergebnisse zu den primären Endpunkten lieferten, die in mindestens eine Analyse einbezogen wurden.

Belastungsinkontinenz (14 Reviews)

Konservative Intervention versus Kontrollgruppe: Es gab Evidenz von moderater bis hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining (PFMT) plus Biofeedback und die Anwendung von (Vaginal-) Konen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe vorteilhafter für die Behebung oder Verbesserung einer Harninkontinenz sind. Ein Beckenbodentraining und in die Scheide eingebrachte mechanische Hilfsmittel (wie z. B. Konen) verbesserten die Lebensqualität im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Eine konservative Intervention versus eine andere konservative Intervention: Für die Behebung und Verbesserung der Harninkontinenz gab es Evidenz von moderater bis hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass Pessare plus Beckenbodentraining vorteilhafter als Pessare allein sind. Beckenbodentraining plus eine edukative Intervention waren vorteilhafter als Konen. Ein intensiveres Beckenbodentraining war vorteilhafter als ein weniger intensives Beckenbodentraining. Ein Beckenbodentraining plus eine Strategie zur Einhaltung des Trainings war vorteilhafter als ein alleiniges Beckenbodentraining. Bezogen auf die Lebensqualität gab es keine Evidenz von moderater oder hoher Vertrauenswürdigkeit.

Dranginkontinenz (fünf Reviews)

Konservative Intervention versus Kontrollgruppe: Es gab Evidenz von moderater bis hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining plus Feedback, ein Beckenbodentraining plus Biofeedback, eine Elektrostimulation und ein Blasentraining im Vergleich zur Kontrollgruppe vorteilhafter für die Heilung oder Verbesserung der Harninkontinenz waren. Frauen, die mit einer Elektrostimulation plus einem Beckenbodentraining behandelt wurden, hatten eine höhere Lebensqualität als Frauen in der Kontrollgruppe.

Eine konservative Intervention verglichen mit einer anderen konservativen Intervention: Für die Heilung oder Verbesserung der Inkontinenz gab es Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit dafür, dass eine Elektrostimulation wirksamer ist als eine Laser-Akupunktur. Es gab Evidenz von moderater bis hoher Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining verglichen mit einer Elektrostimulation zu einer besseren Lebensqualität führt, und dass eine Elektrostimulation plus ein Beckenbodentraining verglichen mit einem alleinigen Beckenbodentraining zu einer besseren Heilung oder Verbesserung und einer höheren Lebensqualität führt.

Alle Formen von Harninkontinenz (13 Reviews)

Konservative Intervention versus Kontrollgruppe: Es gab Evidenz von moderater bis hoher Vertrauenswürdigkeit für eine bessere Behebung oder Verbesserung der Inkontinenz mit einem Beckenbodentraining, einer Elektrostimulation, einer Gewichtsabnahme und der Verwendung von Konen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Es gab Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit für eine verbesserte Lebensqualität durch ein Beckenbodentraining im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Eine konservative Intervention versus eine andere konservative Intervention: Es gab Evidenz von moderater oder hoher Vertrauenswürdigkeit für eine bessere Behebung oder Verbesserung durch ein Beckenbodentraining mit einem Blasentraining als für ein alleiniges Blasentraining. Entsprechend war ein Beckenbodentraining unter individueller Betreuung durch eine Gesundheitsfachperson wirksamer als ein Beckenbodentraining mit weniger Kontakt/Betreuung, und ein intensiveres Beckenbodentraining war vorteilhafter als ein weniger intensives Beckenbodentraining. Es gab Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit dafür, dass ein Beckenbodentraining plus ein Blasentraining zu einer höheren Lebensqualität führt als ein alleiniges Blasentraining.

Anmerkungen zur Übersetzung: 

Universität Heidelberg, freigegeben durch Cochrane Deutschland

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